Umgang mit der Zeit

Giorgio, ein vertrauter und langjähriger Kollege, lud uns zum Kongress nach Turin ein. Wir sollten unsere, die deutsche Sichtweise vorstellen, zusammen mit Fachleuten aus Rom, Turin und Lyon. In den letzten Jahren hatten wir immer wieder zusammengearbeitet und kannten uns recht gut. Ein wenig würde es wohl werden wie bei einem Familientreffen. Der Kongress sollte morgens um neun beginnen.

Giorgio kündigte an, uns um 08:15 mit dem Kleinbus vom Hotel abzuholen. Als wir um 08:10 nach dem Frühstück in die Lobby kamen, saß Giorgio bereits da, hatte eine Espressotasse vor sich und spielte mit dem Autoschlüssel. Um 08:15 kamen die französischen Kollegen auf dem Weg zum Frühstück durch die Lobby und begrüßten uns herzlich. Um 08:20 kamen die anderen italienischen Kollegen vorbei, die auf ihrem Weg in den Frühstücksraum auf die französischen Kollegen trafen, die ihr Frühstück gerade beendet hatten. Um 08:35 waren dann auch die italienischen Kollegen fertig und wir fuhren los - ohne dass ein Wort über die Verspätung gefallen wäre.

Nein, die Verspätung wurde auch nicht etwa stur oder verbissen verschwiegen, sie war einfach für niemanden ein Thema, außer natürlich für uns. Wir aber sagten nichts und schauten nur gelegentlich verstohlen auf die Armbanduhr. Im Kongresscenter trafen wir andere vertraute Kollegen und tranken um kurz nach neun erst einmal einen Espresso miteinander.

Immerhin hatten wir uns am Abend zuvor schon um 23 Uhr voneinander getrennt und es gab viel zu erzählen. Um halb zehn machte der Kongress Anstalten beginnen zu wollen und tatsächlich wurden fünfzehn Minuten später die ersten Begrüßungsworte gesprochen. Es war eine spannende Veranstaltung mit vielem hin und her und abschließend kamen wir alle zu der Ansicht, trotz unserer enormen Anstrengungen und guten Ergebnisse läge noch sehr viel Arbeit vor uns.

Beim Kongressdinner am Abend sprachen wir mit Giorgio, dem unsere Anspannung wegen der Verspätungen nicht verborgen geblieben war. Ohne dass er gefragt hätte, gestanden wir die heimlichen Blicke zur Uhr ein. Auf eine Frage sollte Giorgio aber noch eine Antwort geben: warum er nämlich am Morgen so ungemein pünktlich in der Lobby erschienen war. „Na, ich wusste doch, dass Ihr Deutschen immer pünktlich seid.“

Natürlich waren die italienischen und französischen Kollegen nicht unpünktlich, das würde ihnen unterstellen, nicht mit der Zeit umgehen zu können. Ebenso wenig waren wir die Düpierten, weil wir die Zeitangaben wörtlich genommen hatten. Wir könnten jetzt die altbekannten Ausführungen über den kulturell bedingten Umgang mit der Zeit erneuern, eben dass wir keinen situativen und qualitativen Umgang mit der Zeit pflegten, sondern sie absolut und quantitativ nahmen. Alle diese Überlegungen stimmen und sind bereits oft wunderbar dargelegt worden.

Wenden wir uns abschließend lieber dem Helden der kleinen Geschichte zu – unserem Freund Giorgio. Er jonglierte mit den Zeitvorstellungen aller Beteiligten und glich sie behutsam aus, war in einem Maße „pünktlich“, wie es die Deutschen erwarten würden und war in einem Maße espressotrinkend beim Warten entspannt, dass die anderen keinen Druck verspürten. Natürlich konnte Giorgio die Entspannung genießen: er wusste, wir würden in jedem Fall pünktlich zum Kongress erscheinen.

Später, nach dem letzten Glas Wein fragten wir ihn noch einmal nach der kleinen Geschichte: „Wenn Du selbst abgeholt worden wärst heute Morgen, wann wärst denn Du in der Lobby gewesen?“ Er trank einen kleinen Schluck aus seinem Glas und sagte dann mit toternster Miene: „Rechtzeitig natürlich, rechtzeitig.“

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