Gedanken aus der Krise (1): Kommunikation nach Corona

Seit Tagen leben wir in Quarantäne und ein Ende ist noch nicht abzusehen. Irgendwann aber wird die Pandemie vorüber sein. Das ist der Moment der Fragen: was ist nun anders, was ist neu und was ist geblieben?

Viele Entwicklungen, die bereits seit längerem im Gange sind, werden sich beschleunigen, einige werden zum Abschluss kommen. Beendet werden zum Beispiel Vorkommen, Funktion und Arbeitsweise des klassischen Einzelhandels. Konventionelle Geschäfte wie Buchläden wird es bald nicht mehr geben. Sie kann es geben, doch sicher mit einem anderen Geschäftskonzept als Bücher über die Theke zu reichen und laienhaft abgespultes Prospektwissen als Beratung zu verkaufen. Amazon liefert demnächst direkt an die Lesecouch und mit „Lesecouch“ ist eine Website genannt. Eine von vielen über Bücher, in der kein Profi spricht aber jemand mit Sachverstand.

Die Welt wird digitaler werden. Das ist eine Entwicklung, die sich noch beschleunigen wird. Es wird noch mehr im Netz recherchiert, noch mehr gekauft und noch mehr kontrolliert. Natürlich sind sich alle einig, dass nach der Krise der Umgang mit den Grundrechten und besonders dem informationellen Selbstbestimmungsrecht genau beobachtet und diskutiert werden muss, dass die massenhafte Datenanalyse zum höheren Zweck der Gefahrenabwehr eine Ausnahme bleiben wird. Aber wo einmal ein Nagel in die Wand geschlagen wurde, findet sich schnell ein Mantel zum Dranhängen.

Neu ist ein universelles kommunikatives Paradigma, das zuvor niemand kannte und das jetzt plötzlich alle teilen können: meine und unsere Erfahrung mit der Corona-Krise. Die letzte Pandemie, die spanische Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs, liegt 102 Jahre zurück. Es gibt keine lebenden Zeitzeugen mehr. Also ist die aktuelle Pandemie für alle Menschen eine neue Erfahrung und nach dem heutigen Stand der Entwicklung sieht es auch so aus, dass es für viele Menschen eine Erfahrung ist, über die alle mit allen anderen reden können.

Dieses neue Paradigma beeinflusst die Kommunikation. Auf welche Weise das geschieht, zeichnet sich bereits schwach. Am deutlichsten erkennbar ist ein echter Fehler. „Soziale Distanz“ hat das Zeug, zum Unwort des Jahres zu werden, denn es ist mehr als nur falsch. Eine soziale Distanz zu anderen einzunehmen, heißt in der Beziehung zu anderen auf Distanz zu gehen, also nicht einfach einen Abstand von 1,5 Meter zum anderen zu halten, sondern sich in der Beziehung zueinander zu distanzieren: weniger Vertrauen, noch weniger Empathie, viel weniger Kommunikation – also Isolation voneinander statt bloßem Abstand. Die räumliche Distanz voneinander ist unumgänglich und vielleicht war es das, was die Marketingfachleute für Krisenkommunikation uns sagen wollten. „Räumliche Distanz“ klingt aber nach ausgefallenem Geometrie-Unterricht, „Soziale Distanz“ dagegen nach Insiderwissen.

Was auch nach der Pandemie bleibt, ist die Kommunikation zwischen Menschen, nämlich die Kommunikation über sachliche Themen und damit über die Beziehung der Beteiligten.

Das merkwürdigste Phänomen zwischenmenschlicher Kommunikation sind die Missverständnisse. Bei technischen Systemen, gleich ob analog oder digital, gibt es keine Missverständnisse, sondern nur Fehler, Dysfunktionalität oder Error 404. Die Mechatronikerin mobilisiert in dem Fall alle Messgeräte und Werkzeuge, die IT-Abteilung macht Überstunden zum Herzerweichen und dann ist der Fehler behoben. Alles atmet erleichtert auf und hofft, dass dergleichen nicht mehr vorkommt. Technische Systeme werden verbessert, um fehlerfrei zu werden.

Kommunikation ist ein Pandämonium an Missverständnissen. Irgendwo kursiert die Zahl, nie empirisch erhärtet, aber desto wahrer bestätigt aus unserer Erfahrung, dass 30% der menschlichen Kommunikation aus Missverständnissen besteht. Betrachten wir Missverständnisse aus einer technischen Perspektive, ist die menschliche Kommunikation bei einer so großen Fehleranfälligkeit eine Fehlkonstruktion. Sie gibt es schon so lange und noch immer besteht sie fast zu einem Drittel aus Störungen. Da stellt sich die Frage, ob wir die Fehlerperspektive nicht umkehren sollten: Welchen Nutzen für die Kommunikation haben Missverständnisse?

Wir können sie ignorieren oder mit ihnen arbeiten. Missverständnisse in der Kommunikation sind nämlich produktiv. Niemand wird Missverständnisse begrüßen, weil auch sie Arbeit machen, aber die Klärungsarbeit lohnt sich dreifach. Meistens gewinnt die Sache, wenn sie noch einmal, doch jetzt mit anderen Worten und auf andere Weise, so dargestellt wird, dass der Gesprächspartner versteht, was gemeint ist. Zudem ist die Klärung von Missverständnissen ein Training in Kommunikationstechniken und wirkt damit vorbeugend. Als krönender dritter Gewinn wird sich durch eine erfolgreiche sachliche und sprachliche Klärung die Beziehung der Beteiligten klarer und vielleicht sogar besser.

Was hat das mit der Pandemie zu tun? Wo es keinen Präzedenzfall gibt, müssen wir uns das Verständnis dessen, was geschah und geschieht, völlig neu erarbeiten. Dabei wird es  zwangsläufig zu Missverständnissen kommen. Missverständnisse können produktiv sein – siehe oben. Das wird auch nach der Pandemie so bleiben.

Abbildung: Wikipedia: "SARS-CoV-2", ULR: https://de.wikipedia.org/wiki/SARS-CoV-2; URL der Abbildung: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:2019-nCoV-CDC-23312.png; recherchiert am 22.03.2020.

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